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REZENSIONEN

DER VORSPIEGLER

Das erste „Bild” in der Geschichte der Menschheit war eine Spiegelung – in einer Pfütze, einem stillen See oder einem Wasserloch. Und die Spiegelung eines darüber gebeugten frühzeitlichen Gesichtes dürfte ganz wesentlich zur Bewusstwerdung des Menschen beigetragen haben: Die selbst vollführten Bewegungen und Grimassen gibt auch das Spiegelbild wieder – also muss ich das sein, was mich da ansieht. Nicht „Cogito, ergo sum” ist der Schlüsselsatz, sondern „Video, ergo sum” – ich sehe (mich), also bin ich.

Gerd Lieder entdeckt (und verschlüsselt) die Welt in Spiegelungen und greift damit auf einen der wohl „archaischsten” Erkenntnisprozesse zurück. Gleichzeitig vermittelt er uns in jedem einzelnen seiner – notwendigerweise – perfekt gemalten Bilder einen einmaligen, nicht wiederholbaren Ausschnitt der Wirklichkeit, denn nichts ist flüchtiger als eine Spiegelung. Nur die Kamera – neben den Rotmarderpinseln Lieders wichtigstes Handwerkszeug – vermag sie festzuhalten.

Nie wird jemand von uns in der Realität genau das sehen, was uns Gerd Lieder in seinen Bildern zeigt – und doch bildet er Wirklichkeit ab. Gleichzeitig sind Lieders Arbeiten gefrorene Zeit, Abbilder eines Sekundenbruchteils, der so nie wiederkehren wird. Er bietet uns – und darin liegt das Hintersinnige seiner Malerei – eine Wahrheit an, die nicht überprüfbar ist. Damit beinhalten diese malerischen Deklarationen auch eine spielerische Provokation: Es sieht wahrscheinlich so aus – aber war es so? Und es dürfte Gerd Lieder gelegentlich klammheimliches Vergnügen bereiten, dass nur er es weiß und wissen kann. Eine Realität, die in der Welt existiert und dennoch nur einem Einzigen gehört …

Nicht genug damit, spielt Gerd Lieder noch in anderer Hinsicht mit dem Realitätsverständnis des Betrachters: Seine Bilder sind gleichsam Verschlüsselungen der Realität, die unsere Wahrnehmungsfähigkeit gelegentlich sehr auf die Probe stellen. Was ist das, was da gespiegelt wird? Dabei bespielt Lieder das gesamte Spektrum von „klar erkennbar” bis „keine Chance …”. So reflektieren seine Folienspiegelungen zwar häufig reale Gegen- stände, deren Erkennbarkeit aber geht gegen Null. Auch dies wieder eine hintersinnige Volte: ein fotorealistisches Gemälde, auf dem die Realität nicht zu erkennen ist. Und wieder ist es nur Gerd Lieder, der die Wahrheit kennt … In anderen Bildern wird der Betrachter gezwungen, sehr genau hinzusehen, wie so etwa bei vielen Architekturgemälden, die auf den ersten Blick – wie zahlreiche Bilder Lieders – wie Abstraktionen wirken, sich dann aber doch (und sei es mit Hilfe des Titels) entschlüsseln lassen, etwa „Über den Rhein” oder „Moschee”. Das Kippen zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion ist eine weitere typische Eigenart der Werke Lieders. In einer Ausstellung seiner Bilder erschließt sich eine Vorgehensweise, weil immer mehrere Varianten von Realitätsdarstellung korrelieren. Nähme man aber das eine oder andere Bild aus dem Kontext und zeigte es ohne nähere Erklärung alleine, so sähe eine Reihe von Betrachtern es sicherlich als abstrakte Malerei an. Noch ein Kunstgriff also: Fotorealistische Malerei in Perfektion, die als abstraktes Bild rezipiert wird oder werden kann. Ich werde den Verdacht nicht los: Der Mann spielt nicht nur mit Realitäten, sondern auch mit den Betrachtern.

Nicht übersehen sollte man in Lieders Arbeiten die psychologischen Implikationen – allem voran die Tatsache, dass jemand, der sich die Welt in Spiegelungen betrachtet, den direkten Blickkontakt vermeidet und dieser Welt den Rücken zuwendet. So verweigert sich der Künstler der aktiven Teilnahme und schildert Phänomene und Ereignisse als optisches Spektakel. Wer Lieders Werke kennt, der weiß auch um die vielen Arbeiten, die Einsamkeit, Melancholie, Sehnsucht „widerspiegeln” – etwa „Abschied” (1999), „Tod in Venedig” (1999), „Sehnsucht” (2004), „Sonnensucher” (2005), „Herbstsonate” (2004), um nur einige zu nennen. Gerd Lieders Leben kreist um seine – besessene – Arbeit und um seine Familie. Auch dies tut er kund, wenn er eines der liebevollen Porträts seiner Frau Chris doppelsinnig mit „Lichtblick” (2005) bezeichnet oder in „Kopf an Kopf” (2004) in der Spiegelung eine tatsächliche Verschmelzung erreicht. Man kann also in Lieders Arbeiten nicht nur etwas über Realitäten erfahren, sondern auch über den Künstler.

Dieser Künstler geht erfreulicherweise unbeirrt seinen Weg – und da er zudem ernorm diszipliniert und fleißig ist, kann er bereits auf ein umfangreiches OEuvre verweisen. Dabei ist es erstaunlich, wie viele Aspekte Gerd Lieder dem Thema „Spiegelungen” abgewinnt. Stilleben, Porträt, Akt, Landschaft, Architekturmalerei – nahezu alle Genres der darstellenden Malerei lassen sich bei ihm finden. Mit welchem Sujet auch immer Gerd Lieder sich befasst – das Ergebnis ist hochästhetisch und handwerklich brillant: konzeptionelle Malerei vom Feinsten.

 

Tom Querengässer, Galerist und Kunsthistoriker, Köln

REFLEXE UND REFLEKTIONEN

Programmatisch bezeichnet der Titel dieses Buches die künstlerische Position des Malers Gerd Lieder. Auf seinen Seiten entfaltet sich ein Panorama von Darstellungen, die den Blick eines sensiblen Künstlers auf seine Umwelt dokumentieren. Der Kosmos seiner Weltsicht hat sich gegenüber den bereits vorliegenden Katalogen und Veröffentlichungen noch weiter differenziert und erweitert. Erneut zeigt sich Lieder als ein sorgfältiger, dabei jedoch nie unkritischer Beobachter seiner Umgebung: Dies gilt gleichermaßen für sein direktes familiäres Umfeld, das noch stärker als zuvor thematisiert wird, wie für die Welt und die Welten, die er auf zahlreichen Reisen erlebt und künstlerisch erarbeitet hat. Burckhardts berühmtes Kapitel „Die Entdeckung der Welt und des Menschen” 1 könnte auch als Leitmotiv für Lieders Schaffen gelten. „Ich reise mit verschiedenen Spiegeln im Gepäck durch die Welt und inszeniere meine Spiegelungen oder bediene mich des Vorgefundenen.”

Der Künstler ist fasziniert vom Tempo seiner Zeit, von der vibrierenden Urbanität großer Städte wie New York oder Dubai, von dem ständigen Wandel der Erscheinungen, den er im flüchtigen Spiegelbild erfasst und später in verlangsamtem Zeitablauf in seinen Bildern gerinnen lässt.

 

„Gegensätze und Widersprüche, das ist unsere Harmonie” nennt Kandinsky den Prozess, in dem der Künstler divergierende Erscheinungen, Eindrücke und Aspekte im Kunstwerk gleichsam komprimiert. Aus Antagonismen wie Nähe und Ferne, Innen und Außen, Tradition und Moderne entstehen bei Lieder neue Ordnungsgefüge, die das Kunstwerk als „Einheit in Vielheit” erleben lassen. Dabei ist die Arbeit mit Spiegeln ein wesentliches Moment der Gestaltung, da

  • der Spiegel zunächst als traditionelles speculum mundi wie in der scholastischen Philosophie ein Bild der Welt zusammenfasst

  • der manipulierte (Zerr-) Spiegel dieses Bild der Welt jedoch dem Weltbild des Künstlers unterwirft, Lieder damit der mimetischen Reflexion durch den Spiegel die reflektierte Gestaltung durch den Maler folgen lässt

  • der Künstler somit nie Sklave des Spiegelbildes ist, sondern der Spiegel immer den Intentionen des Künstlers zu folgen hat

 

„Ich dokumentiere und sammle Spiegelungen anhand von unterschiedlichen und bewusst vielfältigen Möglichkeiten, Façetten und Beispielen, dabei bin ich bei der Auswahl sehr spontan.” 5 Diesem Grundprinzip der Arbeit mit dem Spiegel ist Lieder seit Jahren treu geblieben. Zahlreiche Ausstellungen und zwei repräsentative Kataloge belegen dies eindrucksvoll. Lieder bedient sich des Spiegels wie ein Forscher, der seine Wahrnehmung mit einem optischen Instrument differenziert und intensiviert. Wie bei einem Forschungsprojekt verfolgt der Künstler in der Konzeption und Realisation seiner Werke präzise Fragestellungen, die sich in unter- schiedlichen Werkgruppen niedergeschlagen haben. Diese Fragestellungen konkretisiert Lieder oft in seinen Titeln, die dann wie Kommentare oder Interpretationshilfen die rein bildnerische Aussage erweitern (z. B. „Spurenwechsel”, oder „Supernova”).

Neben Themen, die der ganz privaten Sphäre des Künstlers entnommen sind (Frau und Tochter in vielfältigen Variationen und Transformationen) finden sich zunehmend Ausein- andersetzungen mit Architektur. Offensichtlich findet der Maler hier die ideale Möglichkeit, Tradition und Fortschritt zu verbinden, aber auch zu konfrontieren. Sehr eindrucksvoll zeigen dies die Arbeiten „Dresdens Seele” und „Gehry 2”. Zwischen der Statik der architektonischen Formen und der Dynamik ihrer Brechung, zunächst im Spiegel und dann im „SPIEGEL-BILD”, entwickelt Gerd Lieder Spannungsfelder, die nur in seiner brillanten Präzisionsmalerei überhaupt darzustellen sind. Wie wenige Maler seiner Zeit versteht es Lieder, „Verzerrungen, die eine schnelllebige, pulsierende, nie stillstehende Zeit … symbolisieren”, in einer perfektionierten, quasi altmeisterlichen Technik einzufrieren, ohne die Bewegungsabläufe zu arretieren. Lieders Kunst ist in diesem Kontext von Grundpositionen Heraklits bestimmt, die gerne (fälschlich) mit der Formel panta rhei bezeichnet werden. Tatsächlich aber vergleicht Heraklit die ständige Veränderung von Leben und Erleben mit einem Fluss und trifft damit die Empfindungen des Künstlers, der die ständige Veränderung seiner Umwelt in seinen Spiegelungen wiedergibt. Dies bezeugen die Transformationen und Metamorphosen von Menschen, Landschaften und Architekturen in den Abbildungen dieses Buches eindrucksvoll. Selbst die Abfolge der Reproduktionen in diesem Bildband orientiert sich an Lieders Vorstellung vom Fließen, von der ständigen Erneuerung des Bestehenden. So zeigt die erste Reproduktion „Yellow Cab” den Prozess des Zerrinnens im hellen Licht während das Ende des Buches „Streiflichter” nächtliche Visionen gebrochener Lichter eines städtischen Szenarios festhält. Wie der „Ulysses” von James Joyce den Ablauf eines Tages zum Rahmen hat, so ordnet Lieder die Bilder seines Buches einem ähnlichen Verlauf unter. Der Makrokosmos der Welt und des Menschen spiegelt sich im doppelten Sinne des Wortes im Mikrokosmos der Malerei des Gerd Lieder. Variationen und Veränderungen finden sich dann auch in der handwerklich-technischen Dimension der Malerei: Lieders Handschrift hat an Subjektivität noch einmal zugenommen. Zusätzlich zu der vollendeten Technik seiner bisherigen Malerei treten Spuren des Gestischen hinzu; Spachtel und Palettmesser geben der Oberfläche einzelner Bilder zusätzliches Relief und deutliche haptische Qualitäten („Supernova”, „Diva”, „Lichtblick”, „Wolkenkratzer”). Der Betrachter nimmt diese Steigerungen der Oberfläche als spürbare Vibrationen wahr und erlebt das Fluktuierende damit nicht nur in der Spiritualität des Themas, sondern auch in der Materialität der Ausführung eines Bildes.

 

Hier ist anzumerken, daß ein Künstler wie Gerd Lieder sein Publikum immer unmissverständlich ansprechen möchte, dass er sich nie verweigert, sondern stets mitteilt. Sein Wunsch ist es, die Betrachter seiner Werke in seine Betrachtungsweise einzubeziehen „uns gleichsam seine Augen aufzusetzen.” Auch diese Vorstellung unterscheidet ihn von manchen zeitgenössischen Künstlern aller Disziplinen, die gerne damit kokettieren, schwer oder gar nicht verstanden zu werden. Ganz anders Lieder: Ein Gedanke, der sich bei Marcel Proust findet, gibt sehr genau sein künstlerisches Credo wieder, das er in den Titeln zweier Kataloge „Spiegel der Welten – Welten der Spiegelungen” genannt hat. Danach ist die einzige wahre Reise nicht die, in andere Landschaften, sondern die Welt mit anderen Augen zu sehen, die hundert Welten zu sehen, in denen die anderen leben.

 

Jost Funke, Professor für bildende Kunst und Kunstgeschichte, Bremen

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